Ich hab’s so satt. Mir geht dieser Dogmatismus in der Hundeszene tierisch auf den Keks.
Die letzten Tage war ich mal wieder auf Facebook und Insta unterwegs und kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus.
Ein Beispiel aus einer Trainergruppe:
Ein Hund, der an der Leine pöbelt. Die Kommentare? Ein Schlachtfeld. „Du musst rein positiv arbeiten!“ „Der Hund braucht Grenzen!“ „Bedürfnisorientiert ist der einzige Weg!“ „Raumverwaltung löst alles!„
Und ich saß da und dachte: Leute, ernsthaft? Können wir uns vielleicht auch mal gegenseitig zuhören? Oder müssen wir wirklich immer gleich losbrüllen?
Willkommen im Schubladendenken
Die Hundeszene hat ein Problem. Und nein, ich meine nicht die Hunde. Ich meine uns Menschen und unsere Unfähigkeit, auch nur einen Millimeter von unserer „einzig wahren Methode“ abzuweichen. Jeder hat die Lösung gefunden. Und wehe Du tanzt aus der Reihe. Dann bist Du wahlweise ein Weichei, ein Tyrann, völlig ahnungslos oder gleich ein Tierquäler, dem sofort der Hund weggenommen gehört.
Da gibt es die „Rein Positiv“-Fraktion, die schon Schnappatmung bekommt, wenn man das Wort „Nein“ auch nur denkt. Auf der anderen Seite stehen die „Grenzen setzen“-Verfechter, die bei jedem bedürfnisorientierten Kommentar die Augen rollen. Dazwischen tummeln sich die Bedürfnisorientierten, die Raumverwalter, die Strukturfanatiker, alle fest überzeugt, dass ihr Weg der einzig richtige ist.
Ganz ehrlich? Wer soll da noch durchblicken?
Ich nicht! Ich stehe in der Mitte und denke mir: Ihr habt doch alle ein bisschen Recht. Und gleichzeitig alle ein bisschen Unrecht.
Die Lager im Überblick und was die Wissenschaft dazu sagt
Bevor jetzt alle aufschreien: Ja, es gibt Fakten. Richtige, wissenschaftlich belegte Fakten. Und die sollten wir kennen, bevor wir dogmatisch unsere Fahnen schwenken.
Die Lager
Rein positiv
Ursprung: Lerntheorie, insbesondere die operante Konditionierung nach Skinner.
Definition: Arbeit mit positiver Verstärkung (Belohnung für erwünschtes Verhalten) und Vermeidung von positiver Bestrafung (z. B. Leinenruck, körperliche Strafen).
Praxis: Belohnungen wie Futter, Spiel, Lob. Unerwünschtes Verhalten wird möglichst ignoriert oder durch Alternativverhalten ersetzt.
Forschung: Zahlreiche Studien zeigen, dass positive Verstärkung ein effektiver Weg ist, Verhalten aufzubauen (z. B. Feuerbacher & Wynne 2011).
Bedürfnisorientiert
Ursprung: Begriff aus der Humanpädagogik, übertragen in die Hundeszene.
Kernidee: Hunde sollen so trainiert und begleitet werden, dass ihre Grundbedürfnisse (z. B. Nahrung, Ruhe, Bewegung, Sicherheit, Sozialkontakt) berücksichtigt und erfüllt werden.
Praxis: Training wird oft darauf abgestimmt, Bedürfnisse zu identifizieren und daraus Motivation abzuleiten (z. B. mehr Ruhe, wenn Hund überdreht; mehr Sozialkontakt, wenn Bindung fehlt).
Forschung: Es gibt keine direkte Studie zu „bedürfnisorientiertem Training“ als Methode. Aber viele Studien belegen die Bedeutung einzelner Bedürfnisse (z. B. Cortisolanstieg bei Isolation, Lernverbesserung nach Schlaf).
Raumverwaltung
Ursprung: Konzepte wie Natural Dogmanship (Jan Nijboer).
Kernidee: Wer Raum kontrolliert, kontrolliert automatisch Ressourcen und vermittelt Sicherheit.
Praxis: Trainer nutzen bewusst ihr Verhalten im Raum, um Hunde zu lenken (z. B. Türen blockieren, Bewegungen steuern, Distanzregeln setzen).
Forschung: Direkte Studien zur „Raumverwaltung“ als Methode gibt es nicht. Sie fußt auf Beobachtungen von sozialem Verhalten bei Wölfen und Hunden, sowie auf Prinzipien von Ressourcenkontrolle.
Grenzen setzen
Ursprung: Klassische Hundeerziehung, stark geprägt durch Hierarchie- und Dominanzvorstellungen.
Moderne Definition: Nicht mehr primär Härte, sondern klare, konsistente Regeln und Rahmenbedingungen für den Hund.
Praxis: Grenzen können durch Management (z. B. Leine, Türgitter), Training (Signal „Stopp“), oder klare Regeln (nicht auf Sofa, nicht über Straße) umgesetzt werden.
Forschung: Studien zeigen, dass Vorhersagbarkeit und Konsistenz für Hunde wichtig sind, um Stress zu vermeiden (z. B. Hennessy 1997; C. Cavalli et al. 2022). Unklare Regeln erhöhen Stress und Frustration. Grenzen wirken also stabilisierend, solange sie fair vermittelt werden.
Die Fakten
- Positive Verstärkung funktioniert. Das ist zigfach belegt. Studien zeigen immer wieder: Belohnungsbasiertes Training ist effektiv und hat weniger unerwünschte Nebenwirkungen als strafbasierte Methoden. Karen Pryor hat mit Clickertraining Maßstäbe gesetzt, und moderne Verhaltensforschung gibt ihr recht.
- Strafbasiertes Training hat Risiken. Auch das ist wissenschaftlich belegt. Hunde, die mit harten Strafen trainiert werden, zeigen erhöhte Stressmarker und ein höheres Risiko für Verhaltensprobleme. Das heißt nicht, dass jedes „Nein“ den Hund traumatisiert, aber es heißt, dass wir vorsichtig sein sollten.
- Die Dominanztheorie ist tot. Ja, mausetot. David Mech, der ursprünglich die Alpha-Wolf-Theorie popularisiert hat, hat sie selbst korrigiert. Wölfe in freier Wildbahn leben in Familienverbänden, nicht in Dominanzhierarchien. Einen ausführlichen Artikel auf Deutsch dazu findest Du bei Animal Learn. Wer heute noch von „Rudel“ und „Alpha“ spricht, ist wissenschaftlich nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wobei die Begriffe im alltäglichen Sprachgebrauch auch immer wieder falsch angewendet werden. Begrifflichkeiten sind somit generell etwas schwierig.
- Struktur und klare Kommunikation sind wichtig. Hunde brauchen Orientierung. Sie brauchen Vorhersehbarkeit. Sie wollen wissen, was von ihnen erwartet wird. Das ist keine Dominanz, das ist einfach gute Kommunikation.
- Grenzen sind keine Gewalt. Ein klares „Nein“, ein Abbruch eines unerwünschten Verhaltens, eine Regel, das sind keine Strafen im wissenschaftlichen Sinne. Das ist Information. Und ja, Hunde können und müssen lernen, dass nicht alles geht.
Die Grauzone – wo es kompliziert wird
Jetzt kommen wir zu den Bereichen, wo die Wissenschaft noch nicht alle Antworten hat. Bedürfnisorientierung zum Beispiel. Klingt toll, oder? Der Hund entscheidet mit, hat Autonomie, seine Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt.
Aber was sind eigentlich „echte“ Bedürfnisse? Wenn mein Hund das „Bedürfnis“ hat, jeden Jogger zu jagen, erfülle ich das dann? Ist es Autonomie oder einfach schlechtes Training, wenn er entscheidet, dass er heute keine Lust auf Rückruf hat?
Die Balance zwischen Bedürfnissen und notwendiger Führung ist komplex. Und genau deshalb brauchen wir keine Dogmen, sondern Köpfchen.

Bild KI generiert
Warum alle ein bisschen Recht haben (und trotzdem hart nerven)
Die Wahrheit ist doch, wie so oft, echt einfach: Fast jeder Ansatz hat einen wahren Kern.
Positive Verstärkung? Funktioniert fantastisch. Ich liebe es, mit meinen Hunden zu arbeiten, ihnen Erfolge zu ermöglichen, sie für gutes Verhalten zu belohnen und ihnen eine gute Zeit zu schenken. Das baut eine tolle Beziehung auf.
Aber: Wenn ich mir sicher bin, sie haben verstanden was ich von ihnen will und setzen die Aufgaben nicht um, dann wird’s eben auch mal nicht positiv.
Bedürfnisorientiert? Klar! Ich achte darauf, dass meine Hunde genug Schlaf bekommen (was hier in meinem Chaos auch nicht immer einfach ist), dass sie artgerechte Beschäftigung haben, und dass sie nicht überfordert werden. Das ist wichtig und richtig.
Aber: Die Bedürfnisse meiner Hunde enden da, wo sie andere Lebewesen in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung einschränken. Fun Fakt: Auch ich zähle mich zur Gruppe der „anderen Lebewesen“. Denn nein, ich ordne meine Bedürfnisse nicht hinter denen der Hunde ein. Zumindest nicht immer. Es sind immer Kompromisse. Mal verzichte ich, mal sie. Easy.
Grenzen setzen? Absolut! Meine Hunde dürfen nicht jeden Gast anspringen, nicht aus dem Haus schießen, wenn die Tür aufgeht, nicht am Tisch betteln und mit nassen Pfoten nicht aufs Sofa. Und es ist unter Androhung der Todesstrafe verboten, den Feldweg in Richtung Bahngleise zu verlassen. Das sind klare Regeln, und die machen unser Zusammenleben entspannt.
Aber: Auch Grenzen sind keine Dogmen. Finden wir es nicht alle toll, mal was „Verbotenes“ zu tun? Lassen wir den Hunden, wenn möglich, doch auch mal diesen „Nervenkitzel“!
Raumverwaltung? Ja, manchmal! Wenn ich weiß, dass eine Situation schwierig wird, manage ich sie. Da gehen die Hunde dann eben auch mal hinter mir, obwohl sie ihren Auftrag eher vorne sehen würden.
Aber: Nur weil ich immer zuerst aus der Tür gehe, bin ich nicht automatisch der Rudelführer des Jahres. Triggerwarnung: Ich steige sogar ab und zu über meine Hunde drüber, damit sie weiter schlafen können. Die lieben Tierchen haben aber ein Talent dafür dann trotzdem auszustehen, und zwar genau in dem Moment, wo ich auf einem Bein mit der vollen Kaffeetasse über ihnen stehe. Kennst Du, oder?
Das Problem ist nicht, dass die Ansätze falsch sind. Das Problem ist der Dogmatismus. Die Unfähigkeit zu sagen: „Hey, das funktioniert in dieser Situation, aber vielleicht brauche ich da was anderes.“
Mein Ansatz – pragmatisch und ohne Dogmatismus
Ich arbeite mit meinen Hunden nicht nach einem starren System. Ich arbeite nach dem, was der jeweilige Hund in der jeweiligen Situation braucht. Hier wird klar, dass da bei 3 Hunden, ein und die selbe Situation manchmal 2 bis 3 verschiedene Handlungsweisen braucht.
Beim Aufbau eines neuen Signals? Rein positiv, kleinschrittig, mit viel Belohnung. Da gibt es kein „Nein“, nur Erfolg oder nochmal probieren.
Bei Sicherheitsthemen wie Giftködern oder Straßenverkehr? Klare Grenzen, sofort, unmissverständlich. Da geht es um Leben und Tod, nicht um Diskussionen über Bedürfnisse.
Wenn ein Hund überdreht ist und nicht mehr ansprechbar? Runterfahren, Reize reduzieren, Management. Nicht noch mehr Training draufpacken.
Wenn er unsicher ist? Vertrauen aufbauen, positive Erfahrungen schaffen, Bedürfnis nach Sicherheit erfüllen.
Und ich liebe es, dass es so viele verschiedene Ansätze gibt und ich mich immer wieder aus verschiedenen Werkzeugkisten bedienen kann. Warum zur Hölle soll, ja muss, ich mich denn da für einen entscheiden? Das ist doch dumm. Ich schließe so viele gute Sachen aus, nur um einer Strömung fast schon sektenhaft zu folgen. Versteh ich nicht.
Das eigentliche Problem? Je mehr Dogma, je lauter!
Weißt Du, was mich wirklich aufregt? Nicht die verschiedenen Methoden. Sondern die Missionare. Wenn mancher Trainer auf Facebook schreibt, denke ich: „Der Hund braucht keine Grenzen, aber der Trainer vielleicht mal eine.“
Die Leute, die in jeder Hundegruppe ihre Methode predigen müssen. Die bei jedem Problem die gleiche Lösung haben, egal ob’s passt oder nicht. Die andere runtermachen, weil die nicht ihrer Ideologie folgen.
Es geht nicht darum, wer die coolste Methode hat. Es geht um:
- Den individuellen Hund mit seiner Geschichte, seiner Persönlichkeit, seinen Stärken und Schwächen
- Die konkrete Situation ein Welpe braucht was anderes als ein Senior, ein ängstlicher Hund was anderes als ein draufgängerischer
- Die Beziehung
was bei mir und meinem Hund funktioniert, muss bei Dir nicht klappen - Reflektierte Praxis
nicht blind einer Methode folgen, sondern schauen: Wirkt das? Geht’s meinem Hund damit gut? Geht’s mir damit gut?
Am Ende zählt doch nur eins: Geht es dem Hund gut? Ist er entspannt, ausgeglichen, glücklich? Funktioniert das Zusammenleben? Hat der Mensch ein gutes Gefühl?
Wenn die Antwort ja ist, dann ist es egal, ob Du das „rein positiv“, „bedürfnisorientiert“ oder „strukturiert“ nennst.
Mein Appell: Schubladen zu, Hirn an
Ich wünsche mir mehr Offenheit in der Hundeszene. Mehr Neugier statt Rechthaberei. Mehr „Lass uns schauen, was funktioniert“ statt „Das ist der einzige Weg“.
Wir sollten voneinander lernen statt uns zu bekriegen. Die „Rein Positiv“-Fraktion könnte von der Klarheit der Grenzensetzer lernen. Das „Wir-haben-uns-alle-lieb-Lager“ könnte verstehen, dass nicht jedes Verhalten „Dominanz“ ist. Die Bedürfnisorientierten könnten akzeptieren, dass auch ein Hund manchmal Dinge tun muss, auf die er keine Lust hat und dass es neben dem Hund noch andere Lebewesen gibt, die ebenfalls Bedürfnisse haben.
Und am Wichtigsten: Wir sollten aufhören, jeden, der anders trainiert als wir, als Tierquäler oder Weichei abzustempeln.
Meine Wahrheit ist: Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Es gibt gute Prinzipien, gesicherte Erkenntnisse, bewährte Methoden. Aber wie wir die kombinieren, gewichten und anwenden, das ist individuell. Und soll es in meinen Augen auch bitte bleiben.
Mein Hund ist kein Lehrbuch. Dein Hund auch nicht. Und genau deshalb brauchen wir keine Ideologien, sondern gesunden Menschenverstand, Empathie und die Bereitschaft, flexibel zu sein.
Also: Schubladen zu. Hirn an. Hund anschauen. Und dann das machen, was für genau diesen Hund in genau dieser Situation das Beste ist.
Ist das so schwer? Schreib mir Deine Sicht der Dinge gerne in die Kommentare. Feuer frei!
Verpasse nichts mehr!
Trage Dich hier zu meinen Newsletter ein und sei immer als erstes informiert, wenn es neue Kurse oder einen neuen Blog-Artikel gibt.
Dazwischen wird es immer mal wieder persönliche Geschichten über uns geben. Exklusiv für Newsletter-Abonnenten.
Danke schön!
Du bist nur noch einen Schritt vom Newsletter entfernt. Hier geht nichts mehr ohne Netz und doppeltem Boden. Du kennst das Spiel. Postfach - Mail suchen - Adresse bestätigen - und schon kanns losgehen!