Kennst Du das? Du hast einen Jagdhund und er zieht bei jedem Spaziergang wie verrückt an der Leine, sobald er eine Fährte aufnimmt. Oder Dein Hütehund versucht ständig, spielende Kinder im Park zusammenzutreiben. Vielleicht hast Du auch einen Shiba Inu, der seine eigenen Entscheidungen trifft und Deine Kommandos eher als unverbindliche Vorschläge betrachtet?
Wenn Du dir dann in stillen Momenten die Frage stellst: „Was mache ich falsch?“ – dann ist dieser Beitrag für Dich. Denn möglicherweise machst Du gar nichts falsch (okay, vielleicht ein bisschen). Die Antwort liegt oft tiefer: in den Genen Deines Vierbeiners.
Die genetische Grundlage des Hundeverhaltens
Bevor wir über Training sprechen, lass uns einen Blick auf die Genetik werfen. Hunde wurden über Jahrtausende für bestimmte Aufgaben gezüchtet. Diese gezielte Selektion hat nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihr Verhalten, ihre Motivationen und ihre Lernbereitschaft in bestimmten Bereichen geprägt.
Je nach Studienlage erhalten wir dafür etwas unterschiedliche Zahlen:
Nach einer umfassenden Studie von MacLean et al. (2019) in „Proceedings of the Royal Society B“ liegt die Erblichkeit (Heritabilität) verschiedener Verhaltensmerkmale bei Hunden typischerweise zwischen 15% und 40%, je nach spezifischer Eigenschaft. Einige wenige Merkmale können höhere Werte erreichen.
Eine Studie von Zapata et al. (2016) zeigte, dass bestimmte Verhaltenstendenzen wie Jagdverhalten eine Erblichkeit von etwa 30-40% aufweisen können.
Die aktuellste große genetische Studie von Morrill et al. (2022) in „Science“ analysierte über 2.000 Hunde und fand, dass durchschnittlich etwa 25% der Verhaltensunterschiede auf genetische Faktoren zurückzuführen sind.
Somit gehen wir davon aus, dass im Schnitt etwa 15-40% bestimmter Verhaltensweisen genetisch bedingt sind, wobei einige rassetypische Verhaltensweisen eine stärkere genetische Komponente aufweisen können.
Rassegruppen und ihre genetischen Prädispositionen
Jagdhunde: Dem Instinkt auf der Spur
Ob Dackel, Weimaraner oder Beagle – Jagdhunde wurden darauf selektiert, Wild aufzuspüren, zu verfolgen oder zu apportieren. Diese Hunde besitzen:
- Ein überdurchschnittliches Geruchsvermögen
- Einen starken Beutetrieb
- Große Ausdauer und Beharrlichkeit
- Eigenständiges Arbeiten in bestimmten Jagdsituationen
Wenn Dein Jagdhund also bei jedem Kaninchen durchdreht oder stundenlang an einer Stelle schnüffelt, folgt er einfach seinem genetischen Programm. Er kann nicht verstehen, warum Du ihm diese Arbeit verbieten willst – schließlich wurde er dafür gezüchtet!
Hütehunde: Die geborenen Kontrolleure
Border Collies, Australian Shepherds oder Shelties haben eine andere genetische „Programmierung“:
- Sie beobachten ständig ihre Umgebung
- Sie reagieren empfindlich auf Bewegungen
- Sie haben einen natürlichen Drang, Bewegungen zu kontrollieren und zu lenken
- Sie arbeiten eng mit ihrem Menschen zusammen
Wenn Dein Hütehund also Fahrradfahrer verfolgt oder Deinen Gäste in die Fersen zwickt, versucht er nur seinen Job zu machen. Das ist ihm angeboren und in Ermangelung einer Schafherde sucht er sich eine Ersatzbefriedigung.
Nordische und japanische Rassen: Die unabhängigen Denker
Die unabhängigen Typen wie Husky, Akita oder Shiba Inu bringen andere genetische Eigenschaften mit:
- Starke Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
- Ausgeprägtes Territorialverhalten
- Eigene Entscheidungsfindung
- Distanz zu Fremden und oft auch eine gewisse Reserviertheit
Der Shiba, der gerade so beliebt ist, wurde für die selbstständige Jagd im unwegsamen Gelände Japans gezüchtet. Er musste eigenständig Entscheidungen treffen und brauchte wenig menschliche Anleitung. Dieses Erbe trägt er heute noch in sich – was erklärt, warum er manchmal auf Deine Kommandos mit einem fast hörbaren „Ich überlege es mir noch“ reagiert.
Warum Training manchmal an Grenzen stößt
Es ist wichtig zu verstehen: Wenn Dein Hund bestimmte rassetypische Verhaltensweisen zeigt, ist das nicht Dein persönliches „Versagen“ als Hundehalter. Genetische Veranlagungen sind real und mächtig.
Du kannst durchaus gegen die Natur deines Hundes trainieren – aber zu welchem Preis?
- Es kostet extrem viel Energie (für Dich und Deinen Hund)
- Es kann zu Frustration auf beiden Seiten führen
- Es unterdrückt natürliche Bedürfnisse, was wiederum zu Verhaltensproblemen führen kann
- Es stellt die Beziehung zwischen euch auf eine harte Probe
Ein Beispiel: Wenn man einem Beagle versucht das Schnüffeln und Verfolgen von Wildspuren abzugewöhnen, dann wird es krampfig. Das Ergebnis? Ein frustrierter Mensch und ein unglücklicher Hund, der letztendlich andere problematische Verhaltensweisen entwickeln kann. Die Energie, die der Hund nicht beim Schnüffeln freisetzen kann, wird andere Ventile finden.
Der bessere Weg: Mit der Genetik arbeiten, nicht gegen sie
Statt gegen die Natur Deines Hundes zu kämpfen, findest Du hier konstruktive Alternativen:
Für Jagdhunde:
- Nasenarbeit kanalisieren: Fährtensuche, Mantrailing oder Nasenspiele bieten Auslastung für den Jagdtrieb
- Apportiertraining: Auch das Zurückbringen von Gegenständen kann den Jagdinstinkt befriedigen
- Dummytraining: Eine hervorragende Alternative zur echten Jagd
- Kontrollierte Schnüffelzonen: Lege auf Spaziergängen fest, wo Dein Hund nach Herzenslust schnüffeln darf
Für Hütehunde:
- Hundesport: Agility, Obedience oder Treibball sind perfekt für diese Rassen
- Denksportaufgaben: Hütehunde brauchen geistige Herausforderungen
- Gezieltes Triebtraining: Lerne, den Hütetrieb auf Kommando ein- und auszuschalten
- Strukturierte Aktivitäten: Hütehunde lieben klare Aufgaben und Routinen
Für nordische und japanische Rassen:
- Eigenständigkeit respektieren: Akzeptiere, dass diese Hunde keine „Ja-Sager“ sind
- Motivationsbasiertes Training: Finde heraus, was Deinen Hund wirklich motiviert
- Impulskontrolle fördern: Arbeite in kleinen Schritten an Aufmerksamkeit und Konzentration
- Sinnvolle Kompromisse: Vielleicht kannst Du deinen Husky nicht überall frei laufen lassen, aber ihm dafür an sicheren Orten mehr Freiheit geben
Die richtige Balance finden
Der Schlüssel liegt in einer ausgewogenen Herangehensweise:
- Akzeptiere die genetische Veranlagung deines Hundes als Teil seiner Identität
- Setze klare Grenzen, wo nötig (z.B. aus Sicherheitsgründen)
- Biete Alternativen, die den natürlichen Bedürfnissen entsprechen
- Feiere die Stärken Deiner Rasse, statt Dich an ihren Herausforderungen aufzureiben
Fazit: Verstehen statt Verurteilen
Es ist weder Deine „Schuld“ noch die Deines Hundes, wenn bestimmte Trainingsansätze nicht funktionieren. Die Genetik spielt eine entscheidende Rolle im Verhalten unserer Vierbeiner.
Anstatt Dich zu fragen „Warum macht mein Hund nicht, was ich will?“, stelle Dir lieber die Frage: „Wie kann ich meinem Hund helfen, seine natürlichen Bedürfnisse auf eine für uns beide akzeptable Weise auszuleben?“
Wenn Du lernst, mit der Natur Deines Hundes zu arbeiten statt gegen sie, werdet ihr beide glücklicher sein. Dein Hund darf Hütehund, Jagdhund oder eigensinniger „Sturkopf“ sein – und Du darfst ein entspannter Hundehalter sein, der diese Eigenschaften zu schätzen weiß und sinnvoll lenkt.
Denn am Ende des Tages haben wir unsere Hunde doch genau wegen ihrer rassetypischen Eigenschaften ausgewählt – sei es der aufmerksame Blick des Border Collies, die Jagdleidenschaft des Beagles oder die stolze Unabhängigkeit des Akitas. Lasst uns diese Eigenschaften feiern und im Alltag sinnvoll nutzen, statt sie zu bekämpfen.
Wichtig: Genetik ist keine Ausrede für mangelndes Training
So wichtig es ist, die genetischen Veranlagungen unserer Hunde zu verstehen und zu respektieren, darf dies niemals als Ausrede für mangelndes Training dienen. Jeder Hund – unabhängig von seiner Rasse oder genetischen Prädisposition – ist trainierbar und sollte auch konsequent trainiert werden.
Die Genetik gibt uns den Rahmen vor, innerhalb dessen wir arbeiten können, aber dieser Rahmen bietet immer noch viel Spielraum für Entwicklung und Lernen. Ein Jagdhund wird zwar immer seinen ausgeprägten Geruchssinn und Jagdtrieb behalten, aber er kann dennoch lernen, auf Rückruf zuverlässig zu reagieren. Ein Hütehund wird seinen Hütetrieb nicht verlieren, kann aber trainiert werden, ihn nur auf Kommando einzusetzen.
Verständnis für die Genetik Deines Hundes sollte zu besseren, angepassten Trainingsmethoden führen – nicht zum Verzicht auf Training. Es geht darum, mit der Natur Deines Hundes zu arbeiten und realistische Erwartungen zu setzen, nicht darum, jegliche Verhaltensregeln aufzugeben.
Die Kombination aus Respekt für die genetischen Anlagen und konsequentem, artgerechtem Training ist der Schlüssel zu einem harmonischen Zusammenleben mit Deinem vierbeinigen Freund.